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Begegnung mit dem Feind

Begegnung mit dem Feind

Eine Pilgerreise durch Israel und Palästina zeigt, wie Frieden möglich wird. Exklusivabdruck aus „Grace — Pilgerschaft für eine Zukunft ohne Krieg“. Teil 1/3.

Ankunft am Tag von Sukkot

Israel erwartet mich. Für mich ist es inzwischen ein Gefühl, als würde ich nach Hause kommen. Wie lange habe ich diesem Tag entgegen gefiebert. Nun ist er zur absoluten Gegenwart geworden. Müde, fast schläfrig, lassen wir die vielen Kontrollen über uns ergehen. Es gibt einige Komplikationen, da ich keinen Rückflug nachweisen kann. Nach vielen Verhören betreten wir um vier Uhr morgens endlich das Land auf freiem Fuß. Vera steht am Flughafen, um uns abzuholen.

Verwegen, groß und blond steht sie vor mir. Was für eine Wiedersehensfreude! Am Himmel der leuchtende Vollmond. Ist es Zufall, dass ich ausgerechnet am Sukkot ankomme? Es ist das Laubhüttenfest, ein jüdischer Feiertag, an dem die gläubigen Menschen sich kleine Hütten draußen im Garten oder auf den Dächern aufbauen, um sich an die Pilgerschaft ihrer Ahnen zu erinnern und an die göttliche Führung. Manche schlafen für eine Woche in den Hütten und nicht in den Häusern.

Es ist auch der Tag für GRACE, erklärt uns Emma Shamba Ayalon, eine unserer langjährigen israelischen Freundinnen, als sie uns heute beim Abendessen in ihre kleine Hütte auf dem Dach einlädt. Ich, die ich etwas unter Schlafentzug stehe, fühle mich wie in einem Dauerfilm. Ich bin bewegt und dankbar für alles bisher Erfahrene und für das, was noch kommen wird. Morgen werden wir den Ort besuchen, an dem wir die Mauermeditation am 9. November machen werden. In den nächsten Tagen werden wir auch mit den Theaterproben beginnen.

Das Theaterstück: Wir weigern uns, Feinde zu sein

Auf unserer vierwöchigen Pilgerreise durch Israel und die Westbank werden wir an vielen Orten das Theaterstück „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ aufführen. Das Stück war 2002 nach dem ersten Friedenscamp mit Israelis und Palästinensern in Tamera entstanden. Die vielen bewegenden Erzählungen von Kriegen, Konflikten und Sehnsucht nach Frieden, von jüdischer und palästinensischer Geschichte hatte eine Gruppe der StudentInnen von Tamera in ein Theatermanuskript umgesetzt. Ich hatte mit ihnen während einer Reise aus dem Manuskript ein fast einstündiges Theaterstück inszeniert, geprobt und schließlich zur Aufführung gebracht.

Immer, wenn wir es zeigten, waren die Zuschauer berührt von der menschlichen und politischen Tiefe und der Heilkraft des Stücks.

Im Sommer 2003 gingen wir, zusammen mit palästinensischen und israelischen Musikern, darunter dem bekannten israelischen Weltmusiker Yair Dalal, auf eine Friedenstournee durch Deutschland, die Schweiz und Österreich. Immer wieder baten uns Zuschauer, das Stück auch im Nahen Osten selbst zu spielen. Die Pilgerreise sollte es jetzt endlich wahr machen.

Zum Inhalt: Das Stück erzählt die Geschichte des Nahostkonfliktes aus der Sicht von Außerirdischen. Es beginnt mit dem jungen, palästinensischen Selbstmordattentäter Jamal, der eine vollbesetzte Diskothek in Tel Aviv betritt und die Sekunden bis zum Zünden der Bombe zählt.

Ebenfalls in der Disco sind Stella, eine Außerirdische, und Reporterin Kim vom Cosmic Radio sowie viele israelische Jugendliche, die hier ihrem Vergnügen nachgehen wie Millionen andere Jugendliche auf der Welt und noch nicht wissen, dass heute Abend etwas geschehen wird. Kim befragt den jungen Selbstmordattentäter: „Was hat dich zu dieser Entscheidung geführt?“ Verbittert gibt Jamal Antwort. Er erzählt über die andere Seite des Landes, über das Leiden seines Volkes, der Palästinenser, denen man alles genommen hat: Die Dörfer, die Bäume, das Land. „Und zuletzt Fatima. Meine Fatima. Sie haben sie erschossen. Einfach so.“

Jamal will Rache. Kim sucht seine Mutter auf, sie will herausfinden, ob man Jamal noch stoppen kann. Zu tief jedoch sitzen deren Schmerz und Verbitterung. Gibt es denn gar keine Lösung? Kim beginnt, auf der anderen Seite nachzuforschen. Sie trifft David, einen anderen Besucher der Disco. Wie alle hier ist auch er ein Soldat. „Bist du gerne Soldat?“, fragt sie ihn.

Durch David erfahren wir vom Innenleben eines Soldaten; mit ihm erfahren wir, wie es ist, Besatzer zu sein. Wir erleben die dauernde Präsenz der Bedrohung in Israel und den Glauben, nur durch Gewalt überleben zu können. Wir begegnen seiner Großmutter, die das Konzentrationslager in Deutschland überlebt hat, und wir erfahren von der Geschichte des jüdischen Volkes, das seit zweitausend Jahren auf der Suche nach einem sicheren Platz ist, einem Platz ohne Feinde. „Sie wollen uns ins Meer werfen“, ruft Davids Großmutter, und Jamals Mutter schreit: „Sie wollen uns vertreiben.“

„Was genau heißt das: Feinde?“, fragt Stella, die Außerirdische. „Aus meiner Sicht sind es alles Menschen, und alle wollen leben. Davids Großmutter und Jamals Mutter könnten ihre Feindschaft beenden, aber sie müssten sich wenigstens einmal zuhören.“

Der Versuch einer holographischen Frequenzübertragung scheitert; zu tief sind die beiden in ihrem Feindesdenken verstrickt. Auch das internationale Kartell wird sichtbar, die Mächtigen der Erde, die hinter den Kulissen ihre Fäden ziehen und Feindschaft säen, um die Welt unter sich aufzuteilen. Nicht nur Israel und Palästina, auch Südamerika, Afrika, die ganze Welt steht unter ihrem Bann. Aber nur so lange, wie wir ihnen die Macht geben durch unsere Angst, unseren Glauben an die Ohnmacht und unsere Gleichgültigkeit.

Der Aufschrei der Außerirdischen entschärft schließlich die Bombe. Eine internationale Aufbruchskraft, eine tiefe Verbundenheit mit dem Leben und die gemeinsame Weigerung aller Einzelnen, Feinde zu sein, sind nötig, um den Krieg dauerhaft zu beenden. „Früher waren alle Menschen Außerirdische“, sagt Stella am Ende. „Wir müssen ihnen helfen, sich zu erinnern.“

Shaar’ladam — das Tor zu Gott — in Harduf

Vor Beginn der Pilgerreise trifft sich die tragende Kerngruppe für einige Tage in Harduf, einem anthroposophischen Kibbuz im Norden Israels, um die letzten Vorbereitungen zu treffen und das Theaterstück zu proben. Eine engagierte Gruppe im Aufbruch hatte diese Gemeinschaft etwa in der gleichen Zeit gegründet wie wir damals die unsere. Sie waren in den siebziger Jahren zusammengekommen, um eine vollkommen neue Form des Zusammenlebens zu entwickeln. Viele aus der ursprünglichen Trägergruppe leben noch heute hier. Sie wollten die positiven Ansätze der Kibbuzim übernehmen. Aber sie waren entschlossen, es anders zu machen als ihre Elterngeneration.

Die Lehren von Rudolf Steiner waren ihnen eine wichtige Inspiration. Ihr radikaler Gemeinschaftsgedanke ist heute eher in den Hintergrund gerückt. Heute findet das alltägliche Leben im Kibbuz eher in herkömmlichen Familienstrukturen statt. Viele aus der Gründergruppe erzählten uns, dass sie in Harduf im Bereich des Gemeinschaftsaufbaus eher gescheitert seien. Zuviel Vergleich und Konkurrenz habe sich dazwischengeschoben. Außerdem seien das Geldthema und das ungelöste sexuelle Thema viel zu schwierig gewesen.

Inzwischen hat sich das Gemeinschaftsleben eher auf ein hohes soziales, spirituelles, ökologisches und politisches Engagement verlagert. Theater, Kunsthandwerk, Gartenbau, Arbeit mit Behinderten, Kindererziehung prägen das soziale Gefüge. Und doch spürt man, wie ein gemeinschaftlicher Geist über allem waltet.

Uns wurde die Herberge im Wald angeboten. Shaar’ladam, das „Tor zu Gott“, nennt sich diese Oase, an der eine kleine Gruppe von Menschen ganz im Einklang mit der Natur leben möchte. Eine Gruppe von drei Männern und zwei jungen Frauen lebt seit etwa einem halben Jahr hier im Wald. Ohne künstlichen Eingriff mit Maschinen sollen sich nach und nach die Gärten und kleinen Wohnhäuser entwickeln.

Uns wurde ein großes Tipi zur Verfügung gestellt. Es dient uns als Wohnort und Arbeitsraum. Die erste Nacht verbringen die Bewohner dieses Ortes mit uns im Zelt. Für uns, die wir uns sehr nach einem eigenen Gruppenraum sehnen, wo wir konzentriert arbeiten können, ist das nicht einfach. Aber unsere Mitbewohner sind mehr als entgegenkommend. Nach einer Aussprache am nächsten Tag beschließen sie sofort, uns den „Dom“ zu überlassen.

Es hat sich so schnell zwischen uns eingespielt, dass wir uns bereits als eine große Familie fühlen. Einer der verantwortlichen Kräfte hier, er wird Rehi genannt, strahlt eine große Herzlichkeit und Ruhe aus. Er ist die klassische Figur eines weisen naturverbundenen Menschen, er wirkt auf uns fast wie eine positive Romanfigur. Wir fühlen uns ein wenig wie die Urnomaden, die Gott auf Pilgerschaft schickte, um heimzukehren in das Heilige Land.

Harry

Eine unserer zentralen Unterstützerfiguren in Israel ist Harry Finkbeinel. Aus Deutschland kommend, lebt er seit den Gründungsjahren in Harduf zusammen mit seiner israelischen Frau und drei Kindern. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht resigniert hat. Voller Mitgefühl setzt er sich täglich für die Menschenrechte in diesem Land ein. Er hat ein offenes Herz behalten.

Gerade weil er dem Judentum und dem jüdischen Glauben sehr verbunden ist, nahm er immer mehr mit Schaudern und Empörung zur Kenntnis, welche Ungerechtigkeiten in diesem Land geschehen.

In den ersten Jahren hatte er in seinem Idealismus die politischen Hintergründe gar nicht wahrgenommen. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er begann, sich neben seinem Engagement im Kibbuz auch nach Kräften für die palästinensische Seite zu engagieren. „Israel handelt absolut entgegen seiner eigenen Verfassung. So wie heute Politik gemacht wird, hätten wir gar kein Recht, hier zu existieren“, sagt er mit vollem Einsatz für die Menschenrechte.

Wenn man ihm zuhört, könnte man glauben, er sei antisemitisch. Aber er ist alles andere als das. Er träumt von einem blühenden Israel, wo Gerechtigkeit und Nächstenliebe herrschen und die arabische Bevölkerung gleichberechtigt an ihrer Seite steht. Es wird erst ein freies Israel geben können, wenn es ein befreites Palästina gibt. Dies ist die Auffassung, der er unkorrumpierbar folgt.

Die Kibbuzbewegung war ja in ihren Ursprüngen eine engagierte Bewegung mit erneuernder Kraft, geprägt von dem säkularisierten Paradiesgedanken: Man wollte das Paradies Gottes auf die Erde holen. Viele linke Studenten reisten auch aus Deutschland nach Israel, um in den Kibbuzim zu lernen. Der nationalistische Charakter der Bewegung, die militärische Prägung und das damit verbundene Leid und Elend, das man anderen zufügte, wurden der Nachfolgegeneration erst langsam bewusst. Leider war damit auch ein Scheitern der ganzen Kibbuzbewegung verbunden.

Der Gedanke, dass man aus dem nationalistischen Gemeinschaftsgedanken einen globalen werden lässt, der alle Wesen einbezieht, steht wohl erst in der Gegenwart und Zukunft der Geschichte geschrieben. Die Gründung eines Friedensdorfes in Israel, in dem Palästinenser und Israelis gemeinsam die Grundlagen einer Friedensgemeinschaft legen, könnte ein kraftvoller Start sein. Das kleine Dörflein Neve Shalom/Wahat al-Salam hat für diesen Traum erste klare Schritte getan. Hier könnten die heilenden Aspekte der Kibbuzbewegung aufgegriffen werden.

Harry unterstützt uns voller Hingabe, wo immer er kann. Er strotzt vor Energie. Er hat schon viele Friedensmärsche für Middleway, eine israelische Friedensinitiative, organisiert und scheut vor keinem Militär, vor keinem radikalen Siedler und vor keinem radikalen Vertreter der Hamas zurück.

Er nimmt mit jedem Kontakt auf und versucht, mit jedem zu sprechen. Und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Er sagt, was er denkt. Dafür wird er von vielen geliebt und oft zu Rate gezogen. Aber nicht nur auf der politischen Ebene ist sein Wissen gefragt. Auch als Heiler wird Harry von vielen aufgesucht. Er hatte seit seiner Geburt einen gelähmten Arm und fand selbst Wege heraus, sich zu heilen. Das führte ihn dazu, Chiropraktiker zu werden, um sein Heilungswissen an viele weitergeben zu können. Er glaubt fest an innere Führung.

Der kosmische Stamm

An einem Abend feiern wir ein wunderschönes Feuerfest gemeinsam im Pinienwald von Shaar’ladam. Ich fühle mich wie eine zurückgekommene Nomadin aus der früheren Zeit, die nun ihren kosmischen Stamm wieder trifft. Eine neue Pilgerschaft im gelobten Land beginnt. Es werden immer mehr, die bereit sind, das System der Gewalt zu verlassen und vollkommen neue Räume der Gemeinschaft zu bilden. Ich fühle mich wie eine Zeitzeugin für die Entstehung einer neuen Zivilisation. Bis spät in die Nacht sitzen wir am Feuer, und es fallen bewegende Worte über mehr Wahrheit und Zwischenmenschlichkeit unter uns allen.

Aida Shibli, eine junge Beduinin und engagierte Friedenskämpferin, spricht über ihre erste Begegnung mit Tamera. Ich erinnere mich gut an den Brief, den sie mir damals schrieb und fragte, welchen Unterschied es für sie und die Menschen in Krisengebieten ausmache, wenn wir an sicheren Orten Zukunftsgemeinschaften aufbauen. „Unsere Familien werden weiterhin getötet, ausgebeutet, und täglich sehen wir mit an, wie unschuldige Menschen sterben müssen”, schrieb sie voll der Suche nach wirklichen Antworten.

Ich schrieb ihr damals einen langen Brief zurück. Ich schrieb über die feldbildende Kraft und über meine Verbundenheit mit dem Gedanken, dass es an einem Ort dieser Erde gelingen müsse, Frieden aufzubauen. Wenn das wirklich gelingt, wird es eine Wirkung auf das Ganze haben. So kam sie eines Tages nach Tamera. Seitdem hat sich ihr Leben grundlegend verändert. Zwischen uns ist eine langjährige Freundschaft und Kooperation entstanden.

Gesänge, Lachen und tiefe Gespräche prägen den Abend. Ich lasse mich von der Schönheit und Tiefe der jüdischen Seele in ihrer Ursprünglichkeit und Reinheit berühren. Daneben leuchten mir der Glanz und die Leidenschaft der arabischen Welt entgegen. Aidas Reden über ihr Volk ergreifen alle Zuhörenden.

Mir scheint, die jüdische Seele reift im Rückzug in die Glaubensgemeinschaft und in der stillen Einkehr heran und sucht Orte, wo sie ungestört, ohne Verfolgung und Vernichtung, sein darf; das arabische Element hingegen sucht nach Expansion, Kontakt, Gemeinschaft, Leidenschaft, Tanz und Kräftemessen.

Wir sprechen darüber, dass es ursprünglich eine Familie war, die zu der großen Spaltung zweier Völker geführt hat. Wir sprechen über Hagar, Abrahams Magd, die von ihm geschwängert wurde. Später, als auch Sarah, Abrahams Frau, schwanger wurde, war Sarah sehr eifersüchtig. Dies führte dazu, dass Hagar mit ihrem Sohn Ismael in die Wüste geschickt wurde.

Ist es nicht interessant, dass die ursprüngliche Spaltung dieses Landes mit einem Eifersuchtskonflikt und einem Bruderzwist zu tun hat? Ist es nicht naheliegend, dass es in diesen intimen sozialen Strukturen der menschheitlichen Geschichte vollkommen neue Lösungsmuster braucht? Weil diese alltäglichen Liebeskonflikte überall auftauchen, hält man sie für normal. Man erklärt die Krankheit zur Gesundheit. Weil alle die gleiche Krankheit haben, bemerkt sie niemand mehr.

Kaum jemand kommt auf den Gedanken, dass an diesen einfachen elementaren Stellen des alltäglichen Lebens der Ursprung für den globalen Konflikt zu suchen ist und dass dort auch die mögliche Quelle für seine Lösung liegt.

Ich finde es naheliegend, dass wir diese ganz einfachen und elementaren Fragen nicht übersehen dürfen.

Es darf dabei allerdings nicht übersehen werden, dass Israelis und Araber durchaus seit Generationen in der Lage waren, friedlich nebeneinander zu existieren. Erst durch Einmischung der internationalen Welt, erst durch die Staatenfrage, erst dadurch, dass man die Juden in ein Land schickte, das zum großen Teil bereits bewohnt war, konnte der Konflikt in dieser extremen Weise explodieren. Das ist die politische Seite des Konfliktes, die aber doch den gleichen Ursprung hat, die Entfremdung des Menschen von seiner wahren liebenden Natur.

Aufführung unseres Theaterstücks

Wir verbringen die weitere Zeit mit Theaterproben, mit dem Vorbereiten von Wegrouten, dem Malen von Schildern. Wir verteilen die verschiedenen Aufgaben und finden uns als Gruppe ein. Die Tage sind mehr als voll. Das Organisationsteam hat alle Hände voll zu tun. Für mich ein ziemlicher Wechsel in der Daseinsweise.

Als Leitung bin ich vor die Aufgabe gestellt, dass die Gruppe nicht von Organisationsfragen überflutet wird. Was ist wann wo? Wer trifft wen? Welcher Text muss fertiggestellt werden? Was kommt ins Internet? Wer holt wen ab? Dazwischen Interviews mit der großen Tageszeitung Haaretz und anderen. Die treue Kate ist oft viele Stunden am Tag am Telefon, um die entsprechenden Kontakte vorzubereiten. Angelika Reicherter, die Filmregisseurin, ist gekommen, um unseren Weg zu begleiten und dokumentarisch festzuhalten.

Die tägliche Morgenandacht gibt uns immer wieder Gedanken mit in den Tag, die helfen, in der schöpferischen Kraft zu bleiben. Das erste Mal komme ich in intimere Berührung mit der jüdischen Vorstellung von den Engeln. Ich lerne die kosmische Wesenheit des Engels Gabriel kennen, als dem Engel der Disziplin. Eine inspirierende Vorstellung, sich im Bereich der Disziplin von einem Engel an der Hand nehmen zu lassen. Bisher habe ich die Disziplin immer als eine speziell menschliche Eigenschaft betrachtet. Es ist zwar unsere Aufgabe, nicht aus eigener Kraft zu handeln, aber die Disziplin dafür müssen wir schon selbst aufbringen. Eine wunderbare Vorstellung, sich auch an diesem Punkt an der Hand nehmen zu lassen und einer höheren Kraft in sich die Führung zu übergeben.

Gegen Ende unseres fünftägigen Aufenthalts kommt es zu einer ersten öffentlichen Aufführung unseres Theaterstücks vor den Bewohnern von Harduf. Wir kündigen das Stück als öffentliche Generalprobe an. Etwa 50 Gäste kommen. Der Regisseur und Leiter des Theaters von Harduf, Jakov, hält die Einführungsrede. Anschließend spricht Harry.

In uns ein großes Beben. Was wird im Publikum geschehen, wenn sie von Außenstehenden mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert werden? Werden sie sich bevormundet fühlen? Wird es sie verletzen?

Das Publikum ist wie gebannt. Wir sehen die berührten und wachen, manchmal sehr betroffenen Gesichter. Wir sehen, wie die Tränen fließen, und ich kann meine eigenen Tränen, obwohl ich auf der Bühne stehe, manchmal kaum zurückhalten. Unsere Stimmen beginnen, immer mehr zu beben. Es ist eine große Herausforderung, die Spannung zu halten. Am Ende des Stückes zünden wir sechs Kerzen an im Gedenken an die Opfer des Krieges. Jeder Schauspieler verlässt nach dem Anzünden der Kerze einzeln die Bühne. Magische Stille im Saal. Wir waren uns beim Entwurf dieser Szene nicht bewusst darüber, dass es Brauch in Israel ist, sechs Kerzen im Gedenken an die sechs Millionen Opfer des Holocaust anzuzünden.

Als das Stück zu Ende ist, ist die Spannung unendlich groß. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können im Raum. Dann der erlösende Applaus. Wir gehen zunächst in einen kleinen Raum, selbst erst einmal vollkommen still.

Das Theater wirkt auch für uns jedes Mal wie eine Art Katharsis. Dann werden wir zum Nachgespräch eingeladen. Wir sind überwältigt von der positiven Rückkoppelung. Es ist eine Herausforderung für uns, die vielen Danksagungen „verkraften“ zu können. Viele sagen, dass das Theater an sich heilend wirke auf die Seele. Man sieht noch jetzt die Berührtheit in den Gesichtern. Sie danken für die Reinheit des Stückes, sie danken, dass wir keinen Zynismus erlaubt haben. Sie danken für den Mut und die Hoffnung, die dieses Stück wecke. Es sind hauptsächlich jüdische Familien vertreten, aber auch von palästinensischer Seite erhalten wir eine Danksagung: von einem Mann, der erst kürzlich zwei Menschen aus seiner Familie verloren hat. Ein solch positives Echo haben wir nicht erwartet.

Am nächsten Tag beginnt die Pilgerschaft durch das Heilige Land.



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